Steinzeitliche Pilzsammler

von Dr. Robert Hofrichter

Jede Beziehung hat eine Geschichte, denn sie hat irgendwann auf irgendeine Weise angefangen. Wenn dieser Anfang sehr weit zurückliegt, können unsere Vorstellungen über ihn verschwommen sein. So ist es bei den Pilzen und uns Menschen.
Das Verhältnis zu ihnen begann vor hundertausenden von Jahren und mehr – bereits in der Zeit der ersten Hominiden. Auf allen Etappen der langen Entwicklung von den ersten Menschenartigen bis zu dem heutigen Ergebnis, das wir stolz den „vernunftbegabten Menschen“ (Homo sapiens) nennen, haben unsere Vorfahren Pilze nicht nur gesehen und wahrgenommen. Sie haben sich auch mit ihnen beschäftigt, genauso, wie sie Pflanzen und Tiere wahrgenommen und sie nach ihrer Nützlichkeit beurteilt haben. Noch heute können wir beobachten, was vielleicht an der Wurzel unserer Beziehung zu Pilzen steht.

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Warum Affen zu Pilzen greifen
Biologen entdecken in verschiedenen Teilen der Welt immer mehr Arten unserer behaarten Verwandten, die sich ihre eigenen Arzneien aus der Natur verschreiben. Unseren nächsten Verwandten unter den Primaten, die Schimpansen, von denen wir „bloß“ durch sechs Millionen Jahre Evolution getrennt sind, machen das besonders gern. Sie nutzen die Kräuter- und auch die Pilzmedizin. Das geht so weit, dass verschiedene Schimpansen-Gruppen ihre Blatt-Tabletten nach unterschiedlichen Mustern falten.
Zwischenzeitlich sind über 20 Arten von Primaten bekannt, die sich in unterschiedlichem Ausmaß gern Pilze einverleiben. Dieses „Fungivorie“ oder „Mykophagie“ genannte Verhalten kommt häufig – wie bei den Menschen ja auch – oppurtunistisch zum Vorschein, d.h., wenn die Schwammerl wachsen, dann werden sie gegessen. Die Spezialisierung auf eine fast reine Pilzdiät ist unter Primaten sehr selten, kommt aber vor: Die in China endemischen Schwarzen Stumpfnasen verbringen 95 Prozent ihrer Zeit der Nahrungsaufnahme mit dem Verzehr von Pilzen. Diese Affenart lebt in 3.000 bis 4.500 Metern Höhe. In diesem Lebensraum gibt es außer extremophilen Flechten, die zu einem beträchtlichen Teil aus Pilzen bestehen, nicht viel anderes zu beißen.

Der Zunderschwamm als Heftpflaster und Feuerzeug
Wie heute Primaten zu Pilzen greifen, so hat der Umgang mit diesen Gewächsen die Menschwerdung begleitet. Dabei wuchs das Wissen um die Pilze, darum, dass sie töten und dass sie heilen können. Durchaus möglich, dass in diesem oder jenem Hominidenklan bald ein „steinzeitlicher Paracelus“ gelebt und aus Erfahrung gewusst hat, dass für die Wirkung die Menge ausschlaggebend ist: Die Dosis macht eben das Gift. Oft genug wird dieses Wissen wieder verloren gegangen sein, um später vielleicht neu entdeckt zu werden. Wann es den Menschen zum ersten mal aufgefallen ist, dass der Zunderschwamm Blutungen stoppt, werden wir nie erfahren. Und die Erkenntnis, dass er zu 87 Prozent aus dem auch wirtschaftlich interessanten Beta 1,3/1,6 D-Glucan-Melanin-Chitin-Komplex besteht, sollte noch zehntausende Jahre auf sich warten lassen. Und zuvor hatte es wohl schon ähnlich lange gedauert, bis der Mensch gelernt hatte, mit Zunder Feuer zu machen.

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[Textkürzung]

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Was Mutter Erde hervorbringt
Wir können daher mit Recht annehmen, dass Menschen die Pilze in dieser oder jener Form weltweit und seit Urzeiten genutzt haben. Zu bestimmten Jahreszeiten treten die Fruchtkörper der Pilze unter günstigen Bedingungen derart massenhaft auf, dass sie von keinem intelligenten Lebewesen übersehen werden können. Und unsere Vorfahren verfügten schon seit langer Zeit über Intelligenz: Im Jahr 2015 entdeckte man, dass Vormenschen – noch bevor die Gattung Mensch (Homo) überhaupt entstand – in Afrika bereits vor 3,3 Millionen Jahre Steinwerkzeuge hergestellt haben, 700.000 Jahre früher als bisher gedacht.Es ist unwahrscheinlich, dass diese Hominiden, die aufs Engste mit der Natur verbunden lebten und auf alles angewiesen waren, was diese zu bieten hatte, sich nicht mit den Pilzen in ihrer Umwelt befasst hätten, um sie auf ihren möglichen Nutzwert zu prüfen.

Dabei waren die Einstellungen zu diesen außergewöhnlichen Wesen im Lauf der Zeit recht ambivalent. Pilze galten als Träger geheimer Kräfte, als Gleichnis steter Erneuerung und ewigen Wachstums. Mal waren sie lange gar nicht zu sehen, dann erschienen die Wesen der Finsternis plötzlich und massenhaft von einem Tag auf den anderen. Wenig verwunderlich , dass den Menschen diese Kinder der Nacht nicht ganz geheuer waren. Leicht konnte man dem Glauben verfallen, es handle sich um Produkte einer unheilvollen Zusammenarbeit jenseitiger Kräfte mit Mutter Erde.

Steinzeitmenschen lassen es sich mit Pilzen gut gehen
Vor etwa 20.000 Jahren passierte für uns Spurensucher etwas Wunderbares. Gemütlich saß eine Runde von Steinzeitmenschen in der El-Mirón-Höhle in Cantabrien am Lagerfeuer. Zufriedene Schmatzgeräusche waren in der behaglichen Atmosphäre der Höhle zu hören. Auf deren Wänden tanzten die Schattenwesen des Lagerfeuers.
„Wunderbar, diese auf heißen Steinen gebratenen Steinpilze mit Wildschweinschmalz“, brummte der Häuptling des Klans zufrieden. „Es hat in den letzten Wochen nur geregnet. Und viel wärmer als sonst Ende September ist es auch … Kein Wunder, dass sie jetzt aus dem Boden sprießen…“
Der kleine alte Mann, den sie wegen einer schlecht verheilten Verletzung Krummbein nannten, konnte nicht mehr mit auf die Jagd gehen. Dafür kannte er alle Pilze und Pflanzen des Waldes.
Eine Weile hörte man nur das Schmatzen und Mümmeln, Manschen und Schnalzen der Essenden. Selbst die Kleinen ließen von der Brust der Mutter ab und streckten ihre Händchen zum Korb aus, in dem die fertig gebratenen Steinpilze herrlich dufteten.
„Nicht vergessen, noch bevor die Sonne untergeht, treffen wir uns am Feuerplatz vor der Höhle. Der Große Geist wird zu uns sprechen … hm, hm … Seine Boten mit den roten Hüten sind da …“, murmelteKrummbein mit vollem Mund, doch der Klan hörte ihm kaum zu. Schon lange hatten sie sich auf die ersten Pilze gefreut, denn der Sommer war viel zu heiß und trocken gewesen, und die Wesen der Erde waren verborgen geblieben. Jetzt aber, jetzt war der ganze Wald voll von ihnen. Es genügte, einige Schritte aus der Höhle hinauszugehen …

Fliegenpilz 7

An dieser Stelle hören wir mit der steinzeitlichen Märchenstunde auf, die vielleicht gar kein Märchen ist. Denn womöglich hat es sich in der El-Mirón-Höhle in Cantabrien so ähnlich abgespielt. Wissenschaftler fanden in ihr Schädel mitZähnen, die spannende Geschichten über Pilze zu erzählen haben. Die Schädel stammen aus dem sogenannten Magdalenian, einer Epoche der Steinzeit zwischen 18.000 und 12.000 vor Christus. Robert Power vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat sie untersucht. Ablagerungen auf den Zähnen dieser Schädel verraten den Forschern viel über die Ernährungsgewohnheiten der Menschen jener Zeit.
Die Steinzeitmenschen vor 18.000 Jahren aßen recht vielfältige Kost, in der diverse Pflanzen und auch Pilze nicht fehlten. Und die Menschen wussten offenbar schon damals genau, was gut ist: Die unter den Hochleistungsmikroskopen gefundenen Spuren – und Sporen – deuten in Richtung von Dickfußröhrlingen der Gattung Boletus – das ist jene Verwandtschaft mit bis zu 50 Arten, Varietäten und Formen in Europa, zu der auch der Steinpilz gehört. Er ist bis heute einer der begehrtesten Speisepilze.
Und auch die berauschenden Wirkungen des Fliegenpilzes waren den Steinzeitmenschen bekannt. Spuren von Amanita muscaria fanden sich ebenfalls auf den Ablagerungen der Zähne. Viele Wissenschaftler sehen im Fliegenpilz darum das älteste bewusstseinsverändernde Mittel unserer Geschichte, die älteste Droge der Menschheit.

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Das geheimnisvolle Leben der Pilze

Titel: Das geheimnisvolle Leben der Pilze – Die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt

Autor: Dr. Robert Hofrichter

Verlag: Gütersloher Verlagshaus

ISBN: 978-3-579-08676-7

Verlagslink: https://www.randomhouse.de/Buch/Das-geheimnisvolle-Leben-der-Pilze/Robert-Hofrichter/Guetersloher-Verlagshaus/e518522.rhd

https://www.zukunftsfreude.com/buch/robert-hofrichter-das-geheimnisvolle-leben-der-pilze/

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Der Film zum Buch: https://www.youtube.com/watch?v=3uKxPZ_BATk

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Bereits auf KRAUTJUNKER veröffentlichte Buchvorstellung und Leseproben:

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Bild 1: Photo by Guillaume Briard on Unsplash

Bild 3: Zunderschwamm; Bildquelle: Wikipedia

Bild 2: Photo by nathan reed on  Unsplash

Bild 3: Fliegenpilz (Amanita muscaria); © Roland Letscher

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