Buchvorstellung
Terence Hanbury White (* 1906 in Bombay, Indien; † 1964 Griechenland), verfügte über die besten Voraussetzungen, ein großer Schriftsteller zu werden: Das hochtalentierte und sensible Kind erlebte eine traumatische Kindheit sowie eine hervorragende Ausbildung.
Seine Kindheitserinnerungen in der britischen Kronkolonie wurden dominiert vom Hass seiner Eltern aufeinander und ihren nie endenden, gewalttätigen Konflikten. Nachdem seine ansonsten gefühlskalte Mutter ihre positiven Gefühlen den Familienhunden schenkte, wurden diese von seinem gewalttätigen Vater erschossen. In der schlimmsten Szene zankten sich White Eltern über seinem Kindbett und versuchten sich dabei gegenseitig eine geladene Pistole zu entwinden. Dabei drohten sie erst den jeweils anderen und anschließend sich selbst zu erschießen, in jedem Fall aber mit ihm zu beginnen. »Keine sichere Art von Kindheit«, notiert White lakonisch.
Anschließend gelangte er auf ein strenges britisches Internat, in dem er zwar eine profunde Bildung erhielt, jedoch auch exzessive Prügelorgien Teil des traditionellen pädagogischen Konzeptes waren.
Mit den Leiden seiner Kindheit und Schulzeit begründete er später seine lebenslange Sucht nach Anerkennung, seine Neigung zu Depressionen und insbesondere seine sadistischen Neigungen, die er ebenso wie seine Homosexualität aus Scham zu unterdrücken versuchte.
So wurde der talentierte T. H. White zu einem Künstler, der es kaum mit sich selbst und noch weniger mit anderen aushielt.
Große Kunst wird vermutlich selten von Menschen geschaffen, die so ausgeglichen in sich ruhen, wie eine Butterkugel in der Schwerelosigkeit.
Von 1930 bis 1936 lehrte er als Fachleiter für Englisch an einer staatlichen Grundschule, der Stowe School in Buckinghamshire. In seiner Freizeit begann er sich mit dem Mittelalter zu beschäftigen. Immer mehr zogen ihn dabei die Legenden um König Artus in ihren Bann. Mit seinem Buch England have my bones erzielte er seinen ersten literarischen Erfolg.
In diesem Buch beschreibt er anrührend, dass Verliebtsein für ihn eine trostlose Erfahrung ist, es sei denn sich in die Natur zu verlieben. Da es außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, dass ein Mensch seine Liebe erwidern würde, erwählte er sich das Mittelalter, die Natur und die Literatur zu den Geliebten seines Lebens.
Ab dem Jahr 1936 zog er sich in ein gemietetes Wildhüter-Cottage auf dem Land zurück. Seine Schriftstellerei war ins Stocken geraten und »das verdammte 20. Jahrhundert«, wie es Gerard Radnitzky bezeichnete, ekelte ihn. Auf dem Land wollte er sich nicht nur ganz der Schriftstellerei widmen, sondern auch selbst verwildern, um mit sich ins Reine zu kommen. Sein erstes Projekt war der Einstieg in die sagenumwobene und traditionsreiche Kunst der Falknerei. Er betrachtete dies als eine Reise in die Vergangenheit und eine Initiationsprüfung, wie die Queste eines Ritters.
Der dreißigjährige Akademiker und Schriftsteller bestellte sich aus Deutschland einen jungen männlichen Habicht, einen für unerfahrene Jungfalkner vollkommen ungeeigneten Greif. Der Habicht verkörperte das, was White selbst sein wollte: Ein freies, wildes, grausames und »feenhaft magisches« Geschöpf der Wälder. Dabei sind diese befiederten Granaten nervöse und aggressive Einzelgänger, welche extrem schwer abzurichten sind.
»Als ich ihn das erste Mal sah, sah ich etwas Rundes, wie einen mit Sackleinen bedeckten Wäschekorb. Aber er war ungestüm und furchterregend, ähnlich abstoßend wie Schlangen auf Menschen wirken, die sich mit diesen Tieren nicht auskennen, oder erschreckend wie eine Kröte, die auf der Türschwelle sitzt und sich plötzlich bewegt, wenn man im Begriff ist, nachts mit einer Laterne in der Hand den Fuß auf das taubenetzte Gras zu setzen. Das Sackleinen war mit einer groben Schnur zusammengenäht, er stieß von darunter immer wieder dagegen: rums, rums, rums, unaufhörlich und mit mehr als nur einem Hauch von Wahnsinn. Der Korb pulsierte wie ein riesiges, fiebergeschütteltes Herz. Er gab unheimlich Protestschreie von sich, hysterisch, verängstigt, zugleich wütend und herrisch. Er hätte alles und jeden bei lebendigem Leib verschlungen.«
Um die jahrtausendealte Kunst der Beizjagd auszuüben, muss man den Vogel zuerst Abrichten. Dies bezeichnen die Falkner als »Abtragen« . Selbst bei bei leichter beherrschbaren Vögeln erfordert dies neben Sensibilität und Intelligenz eine Fachkompetenz, die man in einem zumindest monatelangem Zeitraum von einem erfahrenen Falkner erlernen muss. Aus sentimentaler Liebe zur Geschichte und um sich ein vormodernes Refugium zu schaffen, orientierte sich White an dem 1619 erschienen Buch Bert’s Treatise of Hawks and Hawking. Vermutlich weil ihn die Brutalität der historischen Dressur an seine eigene Schulzeit erinnerte. Der wilde und sich wehrende Vogel muss hierbei müsse mehrere Tage und Nächte unablässig auf der Hand getragen werden, bis sein Willen durch Schlafmangel und Hunger gebrochen wird und er sich seinem Schicksal ergibt.
Für Mensch und Tier eine Tragödie, die beide gleichermaßen an die Grenzen des Erträglichen führte. Für den Leser, der dieses Drama verfolgt, packende Literatur, welche Whites Rückzug in die Natur plastisch schildert.
»Ich war gerade der Menschheit entkommen, der arme Habicht hingegen war gerade in ihre Fänge geraten.«
Große Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie jede nach Persönlichkeit auf eine andere Weise berühren. So wie ein geschliffener Edelstein immer unterschiedlich erscheint, wenn man ihn durch seine verschiedene Facetten betrachtet. Ist Der Habicht ein Buch über die Beizjagd oder eines über Macht und Unterwerfung? Ist es eine Parabel über Liebe und Leiden? David Garnett, einen Autor grotesker Romane, erinnerte es an eine Verführungsgeschichte aus dem achtzehnten Jahrhundert. Für den Dichter und Erzähler Siegfried Sasson war es ein Buch über den Krieg. Helen Macdonald, die Autorin von H wie Habicht (siehe: https://krautjunker.com/2016/06/13/h-wie-habicht-helen-mcdonald/) und Falke – Biographie eines Räubers (siehe: https://krautjunker.com/2017/04/17/falke-biographie-eines-raeubers/), schrieb in ihrem sehr lesenswerten Vorwort man kann es »als Buch über die beklagenswerte Unfähigkeit des Menschheit lesen, die Natur als etwas anderes zu sehen, denn als Spiegel unserer selbst.«
Helen Macdonald führte weiterhin aus, »White mühte sich ab, ihn zu zivilisieren, ebenso wie er sich abgemüht hatte, sich selbst zu zivilisieren. Er sah Gos aber auch als kleines Geschöpf, verunsichert und bestürzt angesichts der Grausamkeit der Welt, die ihn umgab, so wie White selbst als kleiner Junge verunsichert und bestürzt gewesen war. Diese rührenden und schmerzlichen Identifikationen und Projektionen geistern durch das ganze Buch; die Stimme seines Erzählers – sie wechselt von der biteren Beichte über den Gefühlsüberschwang bis hin zu den nüchternen Feststellungen des Schulmeisters und wieder zurück – betört den Leser zuweilen, zuweilen macht sie ihn wütend, doch immer ist sie schonungslos ehrlich mit sich selbst.Als die Dinge anfingen schiefzulaufen – Gos‘ abrichten findet kein glückliches Ende -, brach White die Arbeit am Manuskript ab. Zwölf Jahre später fand sein Verleger es unter einem Kissen auf Whites Sofa und flehte ihn an, es veröffentlichen zu dürfen. White weigerte sich zunächst – „als bäte man einen Erwachsenen um die Erlaubnis seine jugendlichen Tagebücher herauszubringen“ -, lenkte schließlich jedoch ein, unter der Bedingung, dass er ein Nachwort anfügen durfte, in dem er erklärte, wie er seinen Habicht hätte abtragen sollen.«
Obwohl es die Geschichte eines Scheiterns ist, zählt T.H. Whites Der Habicht in der angelsächsischen Literatur zu den Klassikern des Genres Nature Writing. Damit sind Bücher gemeint, die nicht nur Naturbeschreibung beinhalten, sondern auch die subjektiven Empfindungen des Erzählers beschreiben.
Im darauffolgenden Jahr verfasste mit dem ersten Teil seiner Artussage Der König auf Camelot, einen der frühen Klassiker der Fantasy-Literatur. Das Buch bedeute für ihn den endgültigen künstlerischen und wirtschaftlichen Durchbruch als freier Schriftsteller. Er schildert darin die Erziehung des jungen König Artus bis zu seinem ruhmreichen Tod in der Schlacht. Mehrere Themen, mit denen er sich in Der Habicht befasste, kehren hier in seinem geliebten Mittelalter deutlich wieder: Dominanz und Unterwerfung, die Verwandlung in ein Tier beziehungsweise die Verwandlung eines Tieres. Friedliche Harmonie und gewalttätiger Konflikt. Dabei enthält der ersten Klassiker des Fantasy-Genres auch parodistische Elemente und einfühlsame Charakterstudien. Sein Habicht war wohl das Opfer, das für dieses Buch gebracht werden musste.

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Pressestimmen
»Whites literarische Leistung besteht darin, das fundierte Wissen […] zu poetisieren und zugleich die tägliche Routine […] so spannend zu erzählen, dass aus der Abfolge der Tage tatsächlich ein Bildungsroman en miniature entsteht. Darüber hinaus ist das Buch ein detailreiches Porträt einer Landschaft und eines Landes im vagen Vorgefühl eines kommenden Krieges.«
– Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung
»Whites Bericht ist ein Beispiel für eine intensive und anrührende Begegnung zwischen Mensch und Tier.«
– Goslarsche Zeitung
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Anmerkungen
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Titel: Der Habicht
Autor: Terence Hanbury White
Übersetzung: Ulrike Kretschmer
Verlag: MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Verlagslink: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/der-habicht.html
ISBN: 978-3-95757-642-2
Der Habicht… sieht… die… GEGENWART!!! KAMPF!!!
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