von Florian Asche
Eigentlich sollte diese Reihe mit Artemis beginnen, mit der Göttin der Jagd, der Natur und der wilden Tiere (hier ist dieses Essay). Mit so einer Figur ist man ja automatisch im sicheren Hafen, besonders, wenn eine Frau an der Spitze der Redaktion steht. Da kann der Schreiberling ein paar geschickte Parallelelen einflechten – zum guten Aussehen oder zur Treffsicherheit – und sich für die Zukunft gleich ein Gutkärtchen abholen. Außerdem muss man sich nicht mit biographischen Daten herumschlagen, sondern kann mit kleinen Geschichten nach dem ewigen Prinzip der Jagd schürfen.

Doch nach den ersten Zeilen musste ich zögern, denn der Kult um diese Göttin mag uns uralt erscheinen, bei genauem Hinsehen ist er vergleichsweise jung. Der sagenhafte Sänger Homer schildert uns die Welt des Olymp und seiner Götter in der Ilias, dem Gedicht über die Schlacht von Troja. Wann dieser Mann gelebt hat, das weiß niemand so ganz genau. Man schätzt ihn auf das neunte oder achte Jahrhundert vor der Geburt Christi. Natürlich war schon zu seiner Zeit der Götterkult althergebrachter Alltag der Menschen und entsprang nicht der Phantasie eines einzigen antiken Autoren. Homer hat uns die mythologische Welt gezeigt, in der er selbst schon aufgewachsen war.

Deren Ursprünge fallen vermutlich mit dem Beginn der agrarischen Revolution und zusammen, ab 10.000 vor Christus. Damals begannen die Menschen, erste Kultstätten zu errichten und um sie herum die ersten Siedlungen anzulegen. Die jungsteinzeitliche Siedlung am Göbekli Tepe in der heutigen Türkei liefert uns eine Idee vom Übergang der nomadisierenden Wildbeutergemeinschaften hin zur modernen Struktur der Dörfer und Städte.

Doch die jagdliche Kultur ist viel, viel älter. Mehrere tausend Jahre, bevor die Griechen sich Artemis „ausdachten“, haben Jägerfamilien im heutigen Spanien und Frankreich die Welt der wilden Tiere von draußen in ihre Behausung gebracht und dort mit unbeschreiblicher Kunstfertigkeit an die Wände gemalt. Ihnen, den Unbekannten, die namenlos im Dunkel der frühesten Geschichte der Jagd verharren, gebührt die erste Erinnerung.
Die Geschichte der Höhle von Altamira ist nicht zuletzt deshalb so reizvoll, weil auf beiden Seiten, im Damals und im Heute, Jäger stehen. 1868 (also quasi gestern) kam einem Jäger in der Nähe des nordspanischen Altamira sein Jagdhund abhanden. Manche Probleme ändern sich anscheinend nie. Nach langwieriger Suche entdeckte der Mann seinen Jagdhelfer in einem Felsenloch. Bei aller Freude über den wiedergefundenen Gefährten schaute er noch einmal genauer hin und es schien ihm, als sei der Hohlraum nur Teil einer sich erweiternden Höhle, deren tatsächliche Größe er nicht erkennen konnte.

Pflichtschuldig berichtete er seinem Grundherren davon. Don Marcelino Sanz de Sautuola (* 1831; † 1888) hätte mit den Schultern zucken und zur Tagesordnung übergehen können. Doch der Adelige war naturwissenschaftlich gebildet und geologisch interessiert.

Er wollte sich die Höhle selbst ansehen. Da das kleine Loch, in dem sich der Hund gefunden hatte, viel zu niedrig für einen Erwachsenen war, schickte der Don (offensichtlich kein Helikopterpapa) seine fünfjährige Tochter mit einer Lampe in die Höhle. Das Kind konnte im Vorraum aufrecht stehen und sah sich um. Da seien Kühe an der Decke, berichtete es seinem Vater. Don Marcellino wurde nun erst recht neugierig und begann schließlich mit systematischen Grabungen.
Was in den nächsten Jahren zutage kam, das kann mit Recht als eine der bedeutendsten künstlerischen Darstellungen der Welt bezeichnet werden.

Auf einer Fläche von über 5.000 qm hatten zwischen 33.000 und 11.000 v. Chr. steinzeitliche Sippen gewohnt. Mit Holzkohle, Rötel und Manganerde malten sie mit den Jahren über 900 Darstellungen ihrer unmittelbaren Umgebung an die Höhlenwände, vornehmlich Steppenbisons, Rotwild und Wildpferde.

Die Farb- und Formgebung der einzelnen Tiergestalten ist dabei zum Teil spektakulär. Es ist sofort zu erkennen, dass diese Künstler Zeit hatten, die von ihnen dargestellten Tiere eingehend zu studieren. Viele Maler des Mittealters oder des Barock konnten Wildtiere nur aufgrund von Beschreibungen derer malen, die sie gesehen hatten. Danach waren die Bilder auch. Die Höhlenmaler von Altamira waren dagegen selbst Teil der Natur, die sie auf die Wände brachten.

Hornschwung, hoher Buckel und schwarze Mähne der Bisons wurden von ihnen deshalb geradezu detailfreudig genau gezeichnet. Die Kraft und die Schönheit dieser Tiere muss die Künstler schwer beeindruckt haben.

Noch spektakulärer sind die Darstellungen von Löwen in der 1994 entdeckten Höhle von Chauvet in Südfrankreich. Die flache Stirn, die geduckte Haltung und der starke Hals sind perfekt beobachtet, ein Meisterwerk, auch über die Jahrtausende hinweg. Dabei verschwimmen die Sillhouetten der Raubtiere ineinander wie ein wirkliches Rudel auf der Jagd. Es ist, als spüre man den vereinten Trieb nach Beute.

Diese Löwen betrachtet man nicht mit dem typischen Überlegenheitsgefühl des modernen Kulturmenschen („Ja, ganz nett für die Steinzeit“). Diese Löwen sind echte Kunst, heute wie vor 30.000 Jahren. Das Bild erinnert an die Wölfe von Franz Marc, die er in Erinnerung des Balkankrieges 1913 malen wird.

Es spannt einen Bogen der Tierbeobachtung und der Erkenntnis natürlicher Attribute von damals bis heute. Was waren das für Künstler, die solche Malereien zustande gebracht haben?

In Gedanken an die Steinzeit stellen wir uns automatisch Menschen vor, die sich kaum von den Tieren unterscheiden, die ihre Beute waren. Grunzend sitzen sie um ein Feuer herum und reißen mit schmutzigen Pfoten irgendeinen Fetzen Wildfleisch auseinander, sprachlos, kulturlos, ohne Überbau. Doch die Zeichnungen von Chauvet, Altamira und vielen anderen Orten prähistorischer Kunst beweisen uns die ganze Ignoranz dieses Denkens. Diese Maler der Wildbeutergesellschaften hatten schon alle roten Linien überschritten, die den zivilisierten Menschen von der Natur scheiden.

Sie wussten, dass sie sterben werden. Gerade deshalb vertrauten sie einen Teil ihres Lebens den Höhlenwänden an. So zeigt eine Zeichnung aus Lascaux einen Jäger, der vor einem Bison liegt, der ihn offensichtlich gerade zu Tode getrampelt hat. Es ist das erste Zeugnis menschlichen Sterbens der Weltgeschichte.

Diesen Menschen war auch klar, dass sie etwas Besonderes waren, etwas Individuelles, jenseits der Natur Stehendes. In Altamira und Chauvet hat man die Umrisszeichnungen von Händen gefunden. Solche Signaturen können nur von Menschen stammen, in deren Leben es ein Ich gibt. Ein Ich, das wert ist, an einer Höhlenwand festgehalten zu werden.

Das Ich und der Tod machen den Menschen. Der Tod ist keine lapidare Begebenheit, mit der Leben endet. Er ist vielmehr ein dauernder Begleiter, der uns an jedem Tag bewusst ist und gerade deshalb zum Handeln drängt. Ohne das Bewusstsein des Todes gäbe es nichts, das wir tun, um über unser Ende hinaus zu wirken. Es gäbe keine Kunst, keine Kultur, keine gestaltete Welt. Diese Basis menschlichen Seins war schon im Leben der Steinzeit vorhanden wie in dem unseren. Die Jäger von Altamira und Chauvet stehen ganz dicht neben uns. Sie legen uns die Hand auf die Schulter. 30.000 Jahre? Nein, Altamira und Chauvet, das war gestern.

Abb.: Lebensbild der Oberkasseler Menschen und des Hundes; © Frithjof Spangenberg, illu-Atelier, Konstanz
KRAUTJUNKER-Kommentar: Mehr Informationen zur Chauvet Höhle: https://www.donsmaps.com/chauvetcave.html
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Florian Asche

Der Rechtsanwalt Dr. Florian Asche ist Vorstandsmitglied der Max Schmeling Stiftung und der Stiftung Wald und Wild in Mecklenburg-Vorpommern.Einem breiten Publikum wurde er bekannt durch seinen literarischen Überraschungserfolg über den göttlichen Triatlhon: Jagen, Sex und Tiere essen (siehe: https://krautjunker.com/2017/01/04/jagen-sex-und-tiere-essen/& https://krautjunker.com/2017/09/19/sind-jagd-und-sex-das-gleiche/)
Website der Kanzlei: https://www.aschestein.de/de/anwaelte-berater/detail/person/dr-florian-asche/
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Mehr von Dr. Florian Asche: https://krautjunker.com/?s=florian+asche
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Anmerkungen

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Wie schön, unglaublich. Als wir Cicero gelesen haben im Lateinunterricht ist mir klar geworden, alles schon mal da gewesen, schon lange. Konfuzius, indische Veden oder auch Goethes Wissenschaft, noch recht jung, brilliant und ganz anders als die ausgetretenen Pfade heute.
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